Pearl Nolan und der tote Fischer by Julie Wassmer

Pearl Nolan und der tote Fischer by Julie Wassmer

Autor:Julie Wassmer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Ebooks in Ullstein Buchverlage
veröffentlicht: 2016-04-22T00:00:00+00:00


KAPITEL ELF

»Besser oder schlechter?«

Pearl konzentrierte sich auf die Buchstabenreihe im Leuchtkasten des Optikers, und obwohl es sie große Überwindung kostete, musste sie zugeben, dass sie deutlich besser sehen konnte. Henry Blunkell, der Besitzer des Brillengeschäfts in der High Street, lächelte Pearl hinter seinen dicken Brillengläsern hervor an. Seine Untersuchung hatte nicht einmal zwanzig Minuten gedauert und hatte Pearl buchstäblich vor Augen geführt, was sie seit langem nicht hatte wahrhaben wollen: Sie brauchte eine Brille.

»Diese hier ist nur zum Lesen«, erklärte ihr Blunkell, als er das Rezept ausschrieb. »Aber zum Autofahren werden Sie auch eine brauchen. Vor allem nachts.«

»Warum?«

Der Optiker blickte von seinem Computer auf und sah, dass Pearl gereizt die Stirn runzelte. »Ich meine, warum muss das ausgerechnet jetzt passieren, obwohl ich mein ganzes Leben lang gut gesehen habe?«

Blunkell zuckte mit den Achseln. »Mit zunehmendem Alter erschlafft eben alles ein bisschen …«

»Sehr charmant.«

»Unter anderem auch die Augenmuskulatur«, fügte Blunkell rasch hinzu.

»Bin ich jetzt also kurzsichtig?«

Blunkell kratzte sich an seiner ergrauenden Schläfe und versuchte es mit einer professionelleren Erklärung. »Ihr Zustand ist weit verbreitet und nennt sich Presbyopie oder Altersweitsichtigkeit.«

Pearl sah den Optiker fassungslos an. »Ich bin achtunddreißig, nicht achtundsiebzig …«

»Im Juni neununddreißig«, korrigierte Blunkell sie. »Es ist völlig normal, dass dieser Prozess in der Phase zwischen vierzig und fünfzig einsetzt. Die Linse verliert an Flexibilität, und gleichzeitig hat der Ziliarmuskel Probleme mit der Scharfstellung.« Niedergeschlagen blickte Pearl auf das Rezept, das ihr Blunkell gerade in die Hand gedrückt hatte. Der Optiker sah sie über seine Hornbrille hinweg an. »Gegen das Alter kommen leider auch Sie nicht an, Pearl.«

Zehn Minuten später hatte Pearl alle möglichen Gestelle anprobiert. Schmale ließen ihr Gesicht großflächig erscheinen, breite erdrückten es. Schließlich entschied sie sich für die unsichtbarste Brille, die sie finden konnte, aber das durchsichtige Gestell ließ sie blaustrumpfig und ernst erscheinen – zwei Dinge, die Pearl eindeutig nicht war. Als ihr Blick auf das Preisschild fiel, bekam sie große Augen, und nachdem sie bezahlt und erfahren hatte, dass ihre Brille in zwei Tagen zur Abholung bereit sei, verließ sie das Geschäft mit dem Gefühl, bei diesem Besuch nur verloren zu haben.

Draußen auf der Straße wimmelte es von Touristen, die in der Hitze ihre Shorts und frischen Sonnenbrände spazieren führten. In einer Gruppe geschäftsmäßig gekleideter Männer, die auf der anderen Straßenseite standen, erkannte Pearl neben dem Stadtrat Peter Radcliffe mehrere Mitglieder der Handelskammer sowie das eine oder andere Gesicht vom Organisationskomitee des Festivals. Mit Klemmbrettern bewehrt, gingen sie von Geschäft zu Geschäft, um die verschiedenen Schaufensterdekorationen zu bewerten. Als die Gruppe vor dem Cornucopia stehen blieb, kam Marty nach draußen, um sie zu begrüßen. Sogar von der anderen Straßenseite konnte Pearl sehen, dass sein Schaufenster ein Gewirr aus grünen, von tropischen Blüten durchsetzten Netzen war. Knallbunt und kitschig, sollte das Ganze eine Palmeninsel darstellen, an deren Strand eine Schatztruhe angespült worden war, aus der Austernschalen, Mangos und Ananas quollen. Von einer Kokospalme, auf der ein ausgestopfter Papagei hin- und herschwang, hingen Bananen. Marty, der Pearl noch nicht entdeckt hatte, redete aufgeregt gestikulierend auf die Juroren ein, die sich hastige Notizen machten, während er vermutlich sein Tableau erläuterte.



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